Friedrich Rochlitz an Carl Maria von Weber in Dresden (Fragment)
Leipzig, Mittwoch, 25. Mai 1825

Zurück

Zeige Markierungen im Text

Absolute Chronologie

Vorausgehend

Folgend


Korrespondenzstelle

Vorausgehend

Folgend

Auch wenn Ihr lieber Brief gestern nicht gekommen wäre, würde ich Ihnen, mein verehrter und geliebter Freund, heute geschrieben haben; denn ich habe gestern Euryanthe gehört, und zwar zum erstenmale. Es war die zweite Vorstellung: ich hatte die erste* mir nicht ohne Kampf versagt, um den ersten Eindruck so vollkommen zu empfangen als hier überhaupt möglich; und das konnte ich von jener nicht erwarten. Glauben Sie nicht, ich wollte mich über das Werk umständlich ergießen: das könnte nur mündlich geschehen; noch Ihnen mein und des überzahlreichen Auditoriums Entzücken vormalen: das thun Andere und rühmen sich, es gethan zu haben. Ich beschränke mich auf einige abgebrochene Sätze aus meiner innersten Ueberzeugung, wie sich gebildet hat, diese mir, nicht Unvorbereiteten gebildet hat, der nun, gesammlet, mit allen Kräften seines Wesens hörete, so viel er’s vermochte sich dessen klar bewußt blieb, was sich vor und in ihm begab, und diesen Morgen es sich zurechtrückte.

Das Werk ist in seiner Art so vollkommen, was es sein will und soll, als irgend eines das vorhanden ist: es hätte darum auch überall dafür erkannt werden müssen, bestünde das Publicum entweder aus ganz uUnbefangenen, die blos dem Eindrucke sich hingäben, oder aus wahrhaft Gebildeten, die jedes Vollkommene in seiner Art aufzufassen und mithin die Arten zu unterscheiden verständen und geneigt wären. Solch ein Publicum giebt es jetzt nirgends. Warum drang E. nun in Wien wenig, an einigen Orten fast gar nicht, in Dresden und Leipzig so gewaltig hindurch? Zufälliges, nebenbey Mitwirkendes unerwähnt, darum: weil man an jenen Orten theils mit leerem, ganz oberflächlichem Wesen, theils mit bestimmten und falschen Erwartungen dranging: hier, mit Aufmerksamkeit und Achtung im Allgemeinen – die Geringern wenigstens mit der Erwartung, irgend etwas besondres, Gutes oder Nichtgutes, zu empfangen. Setzen Sie, mein Freund, diese Ansicht weiter fort und ziehen Sie die Folgen im Einzelnen heraus: so wird Ihnen, dünkt mich, alles deutlich werden, und Sie ersparen Ihrem Herzen dabei sogar die Empfindungen die es sonst erbittern oder doch in eine gewisse kalte Verachtung zusammenziehen würden.

„In seiner Art“ – sagte ich. Diese Art aber ist nicht, was man allbeliebt, allgefällig nennt; kann es, wird es nie sein, und es wäre nicht einmal gut, (auch für die Tonkunst nicht,) wenn sie es würde. Sie hat der Massen, für wie des Hoch-, ja Höchstgespannten – dem Ausdrucke nach, des Leidenschaftlichen – der Ausdrucksmittel, des Fremdartigen | und auch Gewaltsamen, zu viel. Vornämlich der zweite Act. Wie die Dichtung nun ist, und wie der Componist den ersten Act schon in dieser Hinsicht gesteigert, konnte er, der zweite Act, freilich nicht anders werden, als er ist: aber man hätte die Dichtung nicht so lassen dürfen; man hätte Zwischensätze herbeischaffen müssen – nicht schwache, aber solche, wo der Zuhörer, ohne zu sinken, zu Athem kommen konnte; wie das im ersten Act geschehen ist. Auch die menschliche Empfänglichkeit hat ihre Gränzen. Ich meines Theils bin keiner der unfähigsten oder sonst schlechtesten Zuhörer; mit höchster Befriedigung, mit Entzücken hatte ich, und wie man soll – das Einzelne im Ganzen, das Ganze im Einzelnen – den gesammten ersten Act und im zweiten die unvergleichliche Scene und Arie des Lysiart gehört: nun aber war ich auf eine Weile erschöpft. Mein Kopf brannte und schmerzte; mein Gefühl und mein Ohr konnten nicht mehr mit, wie bis dahin; nur das Finale riß mich wieder empor; dann machte die Pause neue Fassung möglich, nur so wirkte der dritte Act wieder, wie er sollte: doch war ich bis spät in die Nacht in einer Art, freilich beglückenden Fieber. Geschieht das am grünen Holz, was will am dürren werden? „Ihr gewöhnt euch mehr daran, wenn ihr das Werk öfters hört!“ Gewiß; aber wird nicht über solche Werke meistens, wenn auch mit weniger Recht als Unrecht, nach den ersten Vorstellungen entschieden; und kann man der öfteren Vorstellungen sicher sein? „Die Menge nimmt’s nicht so ernstlich, wie ihr!“ Wahr; aber Ihr stellt Euer Werk doch vor sie hin: solltet Ihr sie dann nicht auch beachten? und braucht Ihr sie nicht? „Kein wahrer Künstler fröhnt der Menge, sondern er geht seinen Weg.“ Schön; aber soll er verschmähen, wodurch er dem Werke selbst, an sich betrachtet, nicht schadete, vielmehr nützte, zugleich aber die Menge mehr gewönne, und auch, den Besseren Verständniß und vollen Antheil, dem Werke allgemeinern Eingang erleichterte? – Ich habe mich hier so lange aufgehalten und es darauf ankommen lassen, Ihnen damit lästig zu werden: ich hab’ es gethan, weil Sie jetzt zwei neue Opern schreiben.

Einzelnes hebe ich nicht aus: das werden und mögen Andre die Fülle thun. Von dem aber, was ich sonst noch über das Ganze zu sagen hätte, erwähne ich mit kurzen Worten dreierley. Was Männer, die wissen, was sie sagen, Styl und Haltung eines Werks nennen – jenes mehr auf das Technische, dies mehr auf den Ausdruck gewendet – das besitzt Ihr Werk (und eben auf so hoher schwieriger Stufe!) in | einem Grade, daß ich erstaune und freudig bewundere. Wie sie anfangen, so bleiben, so enden Sie; und diesem gemäß sind auch die heiterern Stücke, (Tanzmelodien, das Jägerchor und dergl.) so wie die kleinern Solo- und Chorgesänge, meister- und musterhaft abgestuft. Das hat Ihnen, seit Mozart entschlafen, auch nicht Einer, auch nicht in einem einzigen Werke, gleichgethan; und – was gleichfalls unter jenen Begriffen gehört – in ächt-dramatischer und ächt-theatralischer Charakteristik nähert sich Ihnen auch nicht einmal jetzt irgend Einer. – Ihre Recitative, mögen Sie nun die Art, sie zu behandeln, blos aus sich selbst geschöpft, oder aus Studien nach dem größten Meister dieses Fachs – nach Gluck – sich angebildet haben, sind unvergleichlich und eine wahre Seelenweide für den, der so ’was zu erkennen und zu genießen versteht. – Von Seiten des Reizes (des sinnlich Erregenden, Schmückenden, Wohlgefälligen) stelle ich Ihre ganz eigenthümliche Instrumentation, und jene kleinen, (aus Mangel an Gelegenheit in dieser Oper nur etwas seltenen) ebenso originellen, als lieblich hinreißenden, sogenannten Cabaletten, besonders für die Euryanthe, oben an.

Von der Ausführung nun so viel: Man hatte sich die größte Mühe gegeben und bot alle Kräfte auf; die Sonntag war trefflich und wahrhaft liebreizend; alles ging vollkommen sicher: aber das Orchester nüancirte noch nicht genug und bei verschiedenen Sängern reichten Kräfte und Bildung nicht aus. Die Chöre waren nur mäßigstark, aber nicht nur pünktlich, sondern auch den Situationen angemessen. Die Aufmerksamkeit des Publikums war gleich gespannt von Anfang bis zu Ende; der Beifall fast für jedes einzelne Stück einmüthig, und selbst bei einzelnen ganz vorzüglichen Stellen eines Stücks kurz und lebendig hervorbrechend. Hätten Sie doch hier sein können!

Hiermit endlich genug; denn Ihnen zu dem herrlichen Werke erst noch Glück wünschen – das wäre, nach allem Obigen, höchst überflüssig. Jetzt zu Ihrem lieben Briefe! Doch nein; ich muß wenigstens noch hinzusetzen, wenn auch unnöthig, daß ich nicht nur mich innigst freue, sondern stolz darauf bin, daß der Meister der E. mein Freund ist, und auch, daß ihm mein Urtheil etwas gilt*. Rochlitz

Apparat

Zusammenfassung

über Euryanthe in Leipzig; das Werk sei „in seiner Art“ vollkommen, was es sein wolle; sucht Gründe für die Unterschiede in der Aufnahme, hebt schwierige und gute Stellen des Werkes hervor

Incipit

Auch wenn Ihr lieber Brief gestern nicht gekommen

Generalvermerk

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Solveig Schreiter

Überlieferung

  • Textzeuge: Leipzig (D), Leipziger Stadtbibliothek – Musikbibliothek (D-LEm)
    Signatur: PB 37 (Nr. 74)

    Quellenbeschreibung

    • 1 DBl. (3 b. S. o. Adr.)
    • Kopie von bzw. für Lichtenstein; auf Bl. 1r oben: „Rochlitz an Weber über die Euryanthe.“

    Dazugehörige Textwiedergaben

    • Rudorff: Westermanns illustrierte deutsche Monats-Hefte, 44. Jg. (1899), 87. Bd., S. 390–392
    • Rudorff 1900, S. 233–239
    • Auszug: Rungenhagen, Carl Friedrich, Nachrichten aus dem Leben und über die Musik-Werke Carl Maria von Weber’s mit dem sehr ähnlichen Bildnisse desselben, Berlin: T. Trautwein, 1826, S. 7

Textkonstitution

  • „gebildet hat,“durchgestrichen
  • „,“durchgestrichen
  • „gebildet hat,“über der Zeile hinzugefügt
  • „u“überschrieben
  • „U“in der Zeile hinzugefügt
  • fürdurchgestrichen
  • „für“unsichere Lesung
  • „wie“über der Zeile hinzugefügt

Einzelstellenerläuterung

  • „… Vorstellung: ich hatte die erste“EA der Euryanthe in Leipzig war am 20. Mai 1825.
  • „… ihm mein Urtheil etwas gilt“Das im Original offenbar folgende direkte Eingehen auf Webers vorherigen Brief, speziell auf seine Aussagen zu Bd. 2 von Rochlitz’ Sammlung Für Freunde der Tonkunst, wurde vom Kopisten nicht übernommen.

    XML

    Wenn Ihnen auf dieser Seite ein Fehler oder eine Ungenauigkeit aufgefallen ist,
    so bitten wir um eine kurze Nachricht an bugs [@] weber-gesamtausgabe.de.