## Title: Übersicht der musikalischen Produktionen in Mannheim. Winterhalbjahr 1811–1812 (Teil 1/4) ## Author: Gottfried Weber ## Version: 4.9.1 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A031239 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Uebersicht der musikalischen Productionen in Mannheim. Winterhalbjahr 1811 – 12. I. Neue Opern. Ref. berührt nur die bedeutendern. Unter diese gehört ein, wenn gleich kleines, neues Sing-Spiel von Kotzebue, Feodora, mit Musik vom Kapellm. Ritter. Je öfter der Componist das Publicum mit Kindern seines gefälligen Talents beschenkt, desto mehr Dank verdient er. Die Zwanglosigkeit, mit welcher er sich in der romantisch-lyrischen Sphäre bewegt, ist auch in der Feodora nicht zu verkennen, wiewohl Ref. dieser Composition nicht ganz eben das auszeichnende Lob beylegen kann, was er über Ritters Liederspiel, der Zitterschläger, an einem andern Orte ausgesprochen hat. – Unter den einzelnen Musikstücken lässt sich nicht wol eines vor andern herausheben: eher ist die genaue Haltung aller gegen einander zu rühmen. In der fugenmässig gearbeiteten Ouvertüre möchte zu viel Leben und zu wenig Romantik vorherrschen; indessen ist die Wiederkehr des Thema am Ende des Stücks von erfreulicher Wirkung. Die Haupt-Scene Feodora’s ist ausdrucksvoll gehalten; das Duett aus B, wenn gleich die darin durchgeführte Figur an ein bekanntes Adagio in einem Mozart’schen Violin-Quartett (C dur, No. VI.) erinnert, ist schön angelegt, und wird durch das rallentando beym Schlusse sehr glücklich abgerundet. Am wenigsten befriedigte die Musik beym Auftritte des Kaisers, wo Hr. Ritter, bey der Beschränktheit seiner Mittel, (nur vier singende Personen) lieber die Musik ganz hätte sollen schweigen lassen. Auch die Couplets am Ende des Stückes, wo die Entwickelung schon geschehen, und das Interesse schon gelöset ist, bringen dem Ganzen mehr Schaden, als Vortheil, und halten den befriedigten Zuhörer zu lange auf. – Die Ausführung von Seiten der Sänger war sehr mittelmässig, Dem. Frank ausgenommen, welche diesmal wirklich ein Meisterstück lieferte. Ein geheimnisvolles, in sich selbst zurückgezogenes Wesen verbreitete sich über ihr ganzes Benehmen, während der ersten Hälfte des Stücks, und bereitete den Contrast trefflich vor. Als endlich alles sie verlässt und zurückstösst, und gerade jetzt der Augenblick erscheinen soll, von welchem sie Heil und Rettung erwartet – wie lebendig und wahr entwickelte sie da plötzlich ihr Spiel, wie überraschend trat sie aus ihrer bisher blos leidenden Haltung heraus zu leidenschaftlicher Thätigkeit, und wie feurig und hinreissend gab sie den Moment der Erhörung! – So muss sie in Berlin und Breslau immer gespielt haben, um den erstaunlichen Beyfall zu verdienen, mit dem sie dort überhäuft wurde. Eine grosse Oper desselben Componisten, Alexander in Indien, übergeht Ref. in der Ueberzeugung, dass der nicht günstige Stoff es dem Tonsetzer erschwert haben muss, sich von der vortheilhaftesten Seite zu zeigen. Ein Tag in Paris, von Nicolo Isouard, Pumpernickels Hochzeit von Stegmeyer, (!) und Paers lustiger Schuster, sind theils zu unbedeutend, theils zu bekannt, als dass ein ausführlicheres Wort darüber hier an seiner Stelle wäre. II. Debüts in Gastrollen. Hr. Liberati vom Nassauschen Hoftheater gab als Gast Tamino, Don Juan und Titus: letztern am besten. Er hat – um alles Ueble gleich vorne weg zu sagen – den unglücklichen Fehler, seinen Ton immer im Anfang um eine starke Schwebung zu tief anzusetzen, und dann bis zur richtigen Intonation aufzusteigen – ein Fehler, der unstreitig vom unrichtigen Ansetzen des Athems entsteht, indem er (um den technischen, sehr bezeichnenden Ausdruck zu brauchen) nicht gleich Anfangs den Athem hinter die Stimme zu bringen sucht. Es ist um so mehr zu wünschen, dass er diesen abzulegen suche, da er von Natur mit einer vortheilhaften Gestalt, einem sehr angenehmen Sprachorgan, und einer vollen Tenor-Bruststimme begabt ist. Er singt mit Brust oft bis b. Indem er in Fermaten und Cadenzen etwas zu viel aufträgt, schadete er sich in den Augen des hiesigen Publicums. Sein Falsett, was er nicht oft braucht, ist seiner Bruststimme sehr ähnlich. Sein Spiel ist (ich rede hauptsächlich vom Titus) anständig, und zuweilen wirklich edel und effectvoll; nicht selten nur mit etwas zu viel Emphase verbrämt. Im Ganzen bewährte er sich als denkenden und mehrseitig gebildeten Künstler. Möge er unsre freymüthige Bemerkung richtig deuten und benutzen! – Hr. Sonntag, ein neuer Komiker, und Mad. Bachmann, zuvor in Breslau, debütirten in den Sängerinnen vom Lande, er als Bucefalo, sie als Rosa. Ueber beyde hat Ref. sein Urtheil schon in der Zeit. f. d. eleg. Welt ausführlich gegeben, und bemerkt hier nur, dass ersterer seitdem in mehrern Rollen jenes günstige Urtheil bestätigt hat. III. Oeffentliche, abonnirte Concerte. Seit mehrern Jahren hatte Ref. über die stehenden öffentlichen Winterconcerte die Feder gänzlich ruhen lassen, weil er lieber ganz schweigt, wo er des Lobenswerthen allzuwenig findet. Im letztverflossnen Winter hat aber dies, seit geraumer Zeit so arg gesunken gewesene Institut durch etwas vermehrte Thätigkeit und bessere Eintracht wieder zu steigen angefangen, und das erkaltet gewesene Publicum zu neuem Interesse gereizt; unter anderm hauptsächlich schon dadurch, dass man, statt der leidigen, ewigen Instrumental-Concertos und Arien, Scenen, Rondo’s und Duetten, öfter vollstimmigere Musikstücke, Cantaten und Oratorien gab. – Das erste war Himmels Trauer-Cantate auf den Tod Friedrich Wilhelms von Preussen – eine Composition, welche jüngst bey der Todtenfeyer des hochsel. Grosherzogs, Carl Friedrich, in Carlsruhe benutzt worden war, dort allgemeinen Eindruck gemacht hatte, und welche auch hier zu hören dem Publicum allerdings interessant und erwünscht seyn musste. Die Composition ist freylich ohne sehr hohen artistischen Werth, aber doch von vielem Effecte, weil sie leicht fasslich für jeden, und melodiös, dabey die verschwenderisch starke Besetzung (zwey Paar Horne, vier Fagotte, vier Flöten, die Posaunen gar nicht zu rechnen) glücklich benutzt ist, und das Ganze mit einem rauschenden, zum Theil wirklich feurigen Allegro schliesst. Am meisten auszeichnenswerth möchte der erste Chor (C moll) seyn, dessen kurze Sopran-Solostellen: „Opfert Thränen“ etc, mit der einfachsten Hornbegleitung, erst in Es, dann in C dur, Theilnahme und Rührung erwecken; u. das kurze Quartett aus G dur; (Neuer Lebenshauch erscheint;) – dann einzelne Stellen des Schluss-Chors, z. B.: Kinder, Gatten, Freunde, BrüderFinden ihre Theuern wieder:Jubelklang füllt ihre Lieder,Strahlenglanz ihr Angesicht –wo die Tonart As wohlthätige Wirkung hervorbringt. Die Ariette mit Chor aus B dur: Völker, die ihn Vater nannten etc. ist wol etwas zu profan, besonders die wiederholenden Schlussformeln; der Eingang derselben erweckt eine gar zu nahe liegende Reminiscenz an das Duett im ersten Acte aus Salieri’s Oper Tarar; (gleichfalls B 3/4) auch die Bass-Ariette ist etwas zu alltäglich und obenhin behandelt. Am wenigsten Wirkung that das Duett in Es, da die Partien der vier Fagotte und vier Flöten nicht durchgängig mit zuverlässigen Subjecten besetzt, und auffallende Beweise von Unsicherheit Einzelner nicht vermieden werden konnten. Der Choral, blos für Blas-Instrumente, wurde ausgelassen, und wol mit Recht, da er nur darauf berechnet ist, den Zeitraum auszufüllen, welchen die Einsenkung des Sarges und die damit verbundenen Ceremonien erfordern. Die Fortsetzung folgt.