## Title: Rahel Varnhagen an Ludwig Robert in Karlsruhe. November 1822 ## Author: Varnhagen, Rahel ## Version: 4.9.1 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A041877 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Es kommt mir sehr gelegen, an Rossinis tanti palpiti und Carl Maria Webers Jungfernkranz eine alte Behauptung bewähren zu können; daß nämlich nicht alle Melodieen, die vom Volke leicht aufgefaßt und gesungen werden, dadurch allein für schön erklärt werden können. Es giebt Melodieen mit einem bequemen Rhythmus, die zu keiner besondern, und zu keiner höheren, ja nicht einmal zu einer betrachtenden Stimmung auffordern, wobei man im Hause, im Quickmarschtritt umhergehen, Türen schließen, spinnen, Tabak rauchen, nähen, einen Gang machen kann; zu denen gehört offenbar die des Jungfernkranzes; wenn man sich, ohne den Text zu beachten, Rechenschaft von ihr giebt, so ist sie eine vergnügliche Melodie, durch einen kleinen Trotz erhöht: solche werden dann aus imitativer Schwäche allgemein gesungen; eine Art musikalischer Strafe für höhere Musiker, wie auch jeder, welcher ein solches Lied, fast unwillkürlich, singen muß, an sich selbst erfahren kann. Ganz anderer Art ist gleich das tanti palpiti. Es unterbricht schon jedes häusliche Geschäft; es ist eine Empfindung, die in Betrachtung ausartet, die ihre Pausen macht, sich in sich selbst variieren will, und sich gezwungen wiederholt, von stärkerem Schmerz unterbrochen, als sie sich zugestehen will, in offenbare Musik ausartend, die immer allgemeiner in ihren Beziehungen wird. Ein solches Lied wird in Deutschland nicht so leicht allgemein werden, wo das Volk Jungfernkränze haben will, und die Gebildetern tiefe Rechenexempel für den Geist verlangen, dem das Ohr erst nachzukommen lernen muß, – von denen, die sich nur wollen imponieren lassen, gar nicht zu reden! – während der Italiener zum Beispiel schon lange die schönen Gondolierlieder hat, die Stimmungen fordern und hervorbringen, und zu Lande und zu Wasser vom ganzen Volke gesungen werden.