München den
18t
Okt.
1878
Blumenstrasse 5/1
Theuerster Freund!
Es war mir unmöglich Ihnen beifolgendes Blatt früher zu senden, da wir hier in
München, wie Sie vielleicht gelesen haben,
das hundertjährige Jubiläum unseres k: Hof und
Nationaltheaters gefeiert habenKurfürst Carl Theodor von der Pfalz hatte
1777 die kurfürstlich deutsche
Schaubühne unter Theobald Marchand in seine Dienste genommen. Bei
Regierungsantritt hatte der Kurfürst die Truppe mit nach
München genommen und
verfügt, daß eine National-Schaubühne errichtet werden sollte.
Am 6. Oktober 1778
hatte sie im alten Salvator-Opernhaus ihr Debüt und begründete somit das spätere
Hof- und National-Theater., und zwar recht großartig. Hiedurch waren alle
Kräfte u. Köpfe so angestrengt, daß weder Zeit noch Möglichkeit für etwas anderes
übrig blieb, und somit folgt erst heute das Gewünschte.
Ob dasselbe in Bezug auf Silvana u. Abu
Hassan ganz richtig ist, ist leider nicht mehr zu ermitteln,
da, wie ich schon öfter geschrieben habe, durch den großen Theaterbrand, die ganze
Bibliotheck verbrannt ist. Nun wer die Henne nicht haben kann muß eben mit dem Ei
vorlieb nehmen.
So sehr es mich freut daß Ihre lieben geehrten
Söhne eine so schöne Carrière machen, so bedauere
ich zugleich daß es mir durch mein Unwohlsein nicht vergönnt war Ihre liebe Familie und Ihr Haus kennen zu lernen, wobei ich wohl am Meisten
verloren habe. Auch bedauere ich recht sehr daß es mit Ihren Füßen nicht beßer gehen
will; nun wenn es nur noch gut mit dem Kopf steht, dann geht es immer noch an. Ich
will Ihnen eine kleine Beschreibung von dem Meinen
machen, und ich bin überzeugt Ihr Fußleiden wird Ihnen erträglicher erscheinen. Im
vergangenen Februar überfiel mich plötzlich ein Ohrenleiden, welches damit begann daß
ich alle hohen Töne zu tief hörte. In ein paar Tagen bildete sich dasselbe dergestalt
aus, daß ich nicht mehr im Stande war die Töne unterscheiden zu können, und war mir
gleich ob Jemand einen reinen Accord auf dem Claviere anschlug, oder mit den beiden Ärmen alle Tasten
niederdrückte, dazu hörte ich auf dem rechten Ohr
immer:
Tinnitus-Geräusch-Darstellung in Noten
und auf dem linken Ohr die Eisenbahn pfeifen, oder beßer gesagt das
Locomotif, denn die Eisenbahn pfeift nicht. Gestehen Sie
lieber Freund daß wenn man obiges Concert über 3 Monate
ununterbrochen Tag u. Nacht hört, es hinreichend ist einen Menschen wahnsinnig zu
machenNach Schilderung der
Symptome litt Baermann an einem Tubenkatarrh (nach frdl. Mitteilung von
Dr. Wolf-Rüdiger Böhme, Facharzt für HNO,
Berlin)., dazu ist mein
Steinleiden eben auch da, und meine Füße sind noch schlechter als die Ihrigen. Sie
sehen daher, daß die gütige Natur hinlänglich für Unterhaltung u. Zeitvertreib
gesorgt hat, denn während ich diese paar Zeilen schreibe, reißt es mich in den Füßen
dermaßen, daß mir alle feineren Gefühle, Worte u. Gedanken durch die Füße
weggerißen werden, und wenn es nicht so schmerzlich
wäre, so wäre es fast lächerlich.
Mit den Ohren geht es seit ein paar Monaten beßer, ich bin doch wieder im Stande die
Töne wieder vollkommen unterscheiden zu können,
nachdem mir der Ohrenarzt mit einem silbernen Katheder welcher
durch die Nase bis in den Gaumen hineingesteckt hat einige hundertmal comprimirte Luft eingepumpt hat, welches auch ein ganz
angenehmes Gefühl ist, und so erwarte ich denn was der Winter noch bringt. Meiner Frau geht es Gottlob so gut als möglich,
und ebenso ist meine Familie gesund und so glücklich als möglich.
Was die letzten politischen Ereigniße oder Schandthaten in unserm gelobten deutschen
Reiche betrifft, so gestehe ich ganz offen daß ich die jetzige Zeit nicht verstehe,
die so schonend mit Mörder, Räuber und Hochverräther
umgeht, und ihre Abgesandten als gleichberechtigt mit andern politischen Partheien im
Reichstag sitzen und wüthen läßt. Diese Art Liberalismus
ist mir so unverständlich als wenn es erlaubt würde, daß alle Spitzbuben sich im
Reichstag vertreten laßen wollten. Bismark hat
ganz recht, wenn er die ganze Rotte, als Räuber, Mörder u. Banditen bezeichnet. Und
welche Kämpfe kostet es dem Staate die Erlaubniß zu erhalten sich gegen dieses
Gesindel nur zur nothdürftigen Wehre setzen zu dürfen. Bei Gott ich komme auf den
Ausdruck eines hiesigen Pfaffen u. Reacktionär, Pfarrer
Westermaier zurück nämlich: den Teufel hole einen solchen
Fortschritt!Baermann, der ganz
offensichtlich zu den Konservativen gehörte, nimmt Bezug auf die beiden
Kaiser-Attentate am 11. Mai und
2. Juni 1878 sowie auf die neue politische
Parteienlandschaft, insonderheit die Deutsche sozialistische Arbeiterpartei unter
August Bebel und Wilhelm Liebknecht (spätere SPD),
die Bismarck für eine große
Gefahr hielt. Er versuchte, eine Verbindung zwischen den Attentätern und der
mißliebigen Partei herzustellen. Nach dem zweiten Kaiser-Attentat gelang es
Bismarck, ein Ausnahmegesetz gegen die
gemeingefährlichen Bestrebungen der
Sozialisten im Parlament durchzubringen, das berüchtigte Sozialistengesetz
,
das vom 21. Oktober 1878 bis
1890 in Kraft blieb. Anton Westermayer (1816–1884),
kathol. Geistlicher und Schriftsteller, Dom- und Hofprediger in
Regensburg und München, bayr.
Landtagsabgeordneter, 1879-1884 Mitglied
des Reichstags als Zentrumsabgeordneter. Seine Schriften
zeichnen sich durch konfessionelle Polemik aus. –
Doch genug davon; Fußreißen u. politische Galle ist zu viel auf einmal; laßen
Sie recht bald von sich hören, denn ich nehme ja an Allen was Sie u. Ihre Familie betrifft den innigsten Antheil und
bin immer Ihr alter treuer Freund
Carl Baermann