## Title: C. M. v. Weber: Analyse der Bachschen Choralbearbeitungen von Georg Joseph Vogler ## Author: Carl Maria von Weber ## Version: 4.9.1 ## Origin: https://weber-gesamtausgabe.de/A031118 ## License: http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ Zwölf#lb# Choräle#lb# von#lb# Sebastian Bach, #lb# umgearbeitet#lb# von Vogler,#lb# zergliedert von Carl Maria von Weber. [Zusatz von Voglers Hand:] Recencere errores minimum – maximum est emendare opus perficere inceptum. Vogler. Einleitung.Es ist allerdings ein gewagtes Unternehmen, den Ruhm und die Kenntnisse eines von der Welt anerkannten großen Mannes antasten zu wollen, und ein großer Theil wird mit Unwillen gegenwärtiges betrachten, und von Unfehlbarkeits-Glauben beseelt, aburteilen, ohne beyde Theile gehört zu haben. DemungeachtetDemohngeachtet wage ich es im Vertrauen auf die Macht der Wahrheit, des Vermögens, jedes Wort beweisen zu können, und auf die Unparteilichkeit mehrerer Denker, die nicht ungeprüft verdammen werden. Vogler ist so oft, und so häufig verkannt worden; die meist hämischen Angriffe seiner Gegner haben ihn so oft gezwungen, derb zu sprechen, und seine Verdienste selbst geltend machen zu suchen, daß es auch hier nicht überflüßig seyn dürfte, zu bemerken, daß nicht die eitle Sucht, sich über andere erheben zu wollen, ihn bestimmt habe, diese Choräle umzuarbeiten; sondern daß bloß das dringende Verlangen eines großen Theils von Kunstfreunden, denen beyde Choralbegleitungen allerdings durch praktische theoretische Vergleiche, für das Harmonie-Studium sehr interessante Ausbeute versprach – ihn bewog, vor der Hand diese zwölf, nach den bey Breitkopf 1784 erschienenen, zu bearbeiten, und dadurch wieder einen neuen Beweis seines Strebens und seiner Bereitwilligkeit, nützlich zu seyn, zu geben. Man hat so oft und häufig, zum großen Nachtheil des Wesens und der Aufnahme der Kunst, Autoritäten großer Männer gegen einander aufgerufen (und zwar namentlich Bachs gegen Vogler), daß dadurch ohnfehlbar der Jünger der Kunst, der die Meister so uneinig in ihren Grundideen sieht, stets ein schwankendes Wissen und Errathen in sich fühlen muß, wenn er nicht Kraft genug hat, sich von dem Erlernten einer Schule loszureißen, und prüfend seine Bahn zu wandeln. #lb#Ein bekannter musikalischer Schriftsteller nennt Bach den größten Harmonisten seiner Zeit und aller Zeiten. – Vogler, der immer höchst bereitwillig ist, das Verdienst anderer zu ehren, erkennt Bach als ein seltenes großes Genie, von dem es bewundernswerth, daß er, ohne ein System der Anwendungen zu kennen, solche reichhaltige Harmonieenfolgen erfunden hat, in welcher Mannichfaltigkeit Er alle seine Zeitgenossen übertraf; aber daß durch ihn alle Harmoniekenntniß erschöpft seyn sollte – ist wirklich eine gewagte Behauptung, und schon durch Vogler's Arbeiten hinlänglich widerlegt. Vogler, der rein-systematisch zu Werke geht, dessen liberalere Grundsätze, die aus der Natur der Sache erzeugt und bewiesen sind, der Harmonie ein ungleich größeres Feld der Mannichfaltigkeit darbieten, ist der erste, der nicht nur verbietet und gebietet, sondern auch beweist, und philosophisch seine Grundsätze reiht. Die Regeln der Kunst liegen so tief in ihr selbst gegründet, daß es nur reiner, unpartheiischer Ansicht bedarf, um bey demden Vergleichen der Werke großer Männer, wie hier, das Wahre zu entdecken. Deßwegen halte ich es auch ganz unter der Würde der Kunst, hier etwas anders zu thun, als einen Gesichtspunkt zur erleichternden Ansicht beyder Werke aufzustellen, von dem das Urtheil der Künstlerwelt ausgehen, und sich bestimmen kann. Schließlich erlaube man mir noch, zu bemerken, daß ich nur zu sehr fühle, was ein Würdigerer als ich aus meinem Stoffe hätte schöpfen können, und daß verweisend manches Auge auf den jungen Künstler ohne Ruf blicken wird. Aber ich wiederhole es, die Macht der Wahrheit, das Zutrauen zu unpartheiischen prüfenden Männern, und die Aufforderung Vogler's stählten mich zu diesem Unternehmen. #lb#Carl Maria von Weber.Zergliederung.Vogler berücksichtigt bey seinen Choral-Begleitungen 1. Plan. Nur durch consequente Tonfolge wird ein ästhetisches Ganze aufgestellt. Bey der Anlage einer Choral-Begleitung muß man sich am Ende des Verses eine bestimmte Übersicht der Schlußfälle verschaffen; wovon ich bey jeder Zergliederung bey der Bearbeitung einen Vergleichungs-Plan voransetzen werde. 2. Harmonie, nämlich: nach Vogler's Terminologie Harmonia simultanea a. die Wahl der Harmonieen oder Akkorde selbst, b. die Wahl der Lage – und Harmonia successiva c. die Wahl der Folge derselben. Das ängstlicheängliche Vermeiden der verrufenen Quinten und Octaven erzeugt noch keine Reinheit der Harmonie-Folge. Ein bloßer Fehler der Lage ist nicht so wesentlich und streng zu rügen, als die beynahe noch nie von Andern berührte Folge der Akkorde in rednerischer Hinsicht, als bestimmende Grundzüge der Ideen-Reihe. 3. Selbständigkeit und Melodie der einzelnen Stimmen im Verhältniß zu sich und dem Ganzen. Es ist nicht genug, daß eine jede Stimme einzeln für sich singe; ihre Zusammenstellung mit den andern ist das Wesentliche, und das dabey zu vermeidende unangenehme Zusammenstoßen durchgehender Noten, um eine einzelne Stimme fließend zu machen. Choral No: I.Aus meines Herzens Grunde.Vergleichungsplan der Schlußfälle. Bach. D. G. D. G. D. C. D. G. Vogler. – – A. – – – A.[Im Enwurf ist das 2. A nicht vorhanden; ebenso bei Hell II, S. 49 und MMW III, S. 13] – (NB. Bach wiederholte immer ganz den ersten Theil, und Vogler giebt ihn jedesmal neu.) Bey Bach finden wir Takt 3 in den Mittelstimmen gegen den Baß eine unangenehme Zusammenstellung, wo erst d/h zum c im Basse, und dann gleich e/c zum h im Basse angeschlagen wird. Takt 20 und 21 ist der durch die Harmonie-Begleitung erzeugte Sprung der Melodie eine auffallende Härte, da das h in der Oberstimme durch die begleitende kleine 7 des Basses g zum unwiderstehlichen Leitton (besonders nach der Lehre anderer Systeme) nach c wird. Welches Vogler sehr fließend zu vermeiden wußte, indem bey ihm das h als siebenter Ton von c erscheint, und nach Belieben fortschreiten kann. Er hat zwar hier zur vollkommnen Begründung des Schlusses einen Takt eingeschaltet, der aber nicht in Anschlag zu bringen ist, theils weil es derselbe Klang, theils weil Vogler schon in dem einen Takte eben so gut hätte enden können. Der Takt 24 ist bey Bachbei Bach ist voll übel zusammentreffender Durchgänge, und in keiner Begleitung Vogler's wird man dergleichen finden. (Um nicht zu weitläufig zu seyn, werde ich künftig nur diejenigen Durchgänge bezeichnen, die auf einen bestimmten Anschlag oder Takttheil fallen, und die überall und besonders mit der Würde des Chorals unverträglich sind.) Choral No: II.Ich dank dir lieber Herre.[Der Textanfang fehlt auch bei Hell II, S. 50, bei MMW III, S. 14 in der Fußnote ergänzt]Vergleichungsplan der Schlußfälle. Bach. E. E. E. E. E. H. E. A. Vogler. A. – A. – – – – – Die 5 Schlüsse in E bey Bach erzeugen Eintönigkeit, und sind besonders Takt 2 und 6 etwas hart, welches Vogler mit ungemeinem Reichthume der Harmonie jedesmal neu ausstattete. Takt 14 wird dem Gehör reine Quinten hören lassen. Auf dem Papiere sind sie zwar vermieden, und man erlaubte sich also Quinten zu hören, wenn man sie nur nicht sah. Takt 16 ist im Vergleich mit dem von Vogler steif, und das Zusammentreffen von h/a/gis sehr unangenehm. Da hingegen bey Vogler jede Stimme allein, und mit den andern fließt und singt. | Choral No: III.Ach Gott vom Himmel sieh darein.Vergleichungsplan der Schlußfälle. Bach. E. A. E. A. H. A. E. Vogler. H. D. – – – – – Dieser Choral ist einer der schönsten und fließendsten von Bach. Bis auf Takt 3, wo, um den Baß singend zu machen, im letzten Viertel f/d/eh/f e [bei Hell II, S. 51 und MMW III, S. 15 h/f] zusammentreffen. Auch die Sechzehntel in der Melodie scheinen willkührlich eingeschaltet zu seyn, und der Natur des Chorals wiederstrebend. Choral No: IV.Es ist das Heil uns kommen her.Vergleichungsplan der Schlußfälle, Bach. A. H. A. H. H. Cis. E. Vogler. – – D. E. – – – Ref. kann hier nicht unbemerkt lassen, wie Takt 3 und 7 in den drei Oberstimmen3–7 eine ganz andere Harmonie, als die dem Basse nach zu erwartende, sich befindet, welches Bach offenbar dem Gang des Basses zu Liebe gethan hat. Da sich dergleichen noch öfters vorfindet, so drängt sich die Bemerkung auf, daß Bach oft, um den Gang einzelner Stimmen zu erhalten, die Harmonie opferte. Die Begleitung Vogler's zu diesem Choral ist ein Meisterstück, das durch seine vortreffliche, edle Haltung jeden entzücken muß. Die durchaus analoge Fortschreitung des Tenors und Basses, gleich der erste Eintritt des letzteren im 4ten Viertel des ersten Taktes (und die Anwendung hievon im Takt 6–7) ist ungemein reizend. Choral No: V.An Wasserflüssen Babylons.Vergleichungsplan der Schlußfälle.[auch bei Hell II, S. 52 und MMW III, S. 16 nicht enthalten] Bach. G. G. G. G. G. D. E. A. D. G. Vogler. H. – E. C. – – H. – G. – Bey Bach 5 Schlußfälle in G, wovon der erste choralwidrig in der Terz schließt. Takt 2, zweytes Achtel, ist derselbe Fall wie im 4ten Choral, wo die 3 Oberstimmen eine dem Bass ganz fremde Harmonie bezeichnen. Takt 12–13 ist besonders mit unangenehmen Zusammentreffen des Tenors mit dem Basse überhäuft, wo Ref. nur im Allgemeinen darauf verweisen, und Vogler's reine harmonische Bearbeitung als Gegenstück anführen kann. Seine zwey letzten Schlußfälle endigen in G, beym 18ten Takt ein plagalischer, beym 21sten Takt ein authentischer. Choral No: VI.Nun lob' meine Seel' den Herren.Vergleichungsplan der Schlußfälle.[auch bei Hell II, S. 53 und MMW III, S. 16 nicht enthalten] Bach. A. A. A. A. Fis. E. D. H. D. E. E. A. Vogler. Cis. – Fis.– – – – – A. – H. – Der erste Schlußfall bey Bach wieder in der Terz. Takt 21 das 2te Viertel nur zweystimmig. Takt 31–32 drängt sich Baß und Tenor, imund Takt 43 windet sich der Diskant um den Alt. Vogler hat überhaupt in diesem, wie in den meisten, einen ungleich größern Harmonie-Reichthum entwickelt, und doch nie von den Hülfsmitteln des Einschaltens von unharmonischen Nötchen etc. Gebrauch gemacht, um sich fließend zu erhalten. Merkwürdig ist im 14ten Takt das Zusammenschmelzen von g und fisfis. Choral No: VII.Christus der ist mein Leben.Vergleichungsplan der Schlußfälle.[auch bei Hell II, S. 53 und MMW III, S. 16 nicht enthalten] Bach. F. F. C. F. Vogler. D. A. – – In diesem übrigens sehr schön geschriebenen Choral sind Takt 5, 2tes Viertel, im Alt 2 Sechszehntel eingeschaltet, die zwar die Fortschreitung zweyer Quinten decken sollten, aber ihn in seinem Flusse stören. Vogler hat in seiner Bearbeitung die Terzschlüsse, Takt 2–4, vermieden, und überhaupt mehr Abwechselung hineinzulegen gewußt. | Choral VIII.Freuet euch, ihr Christen.Vergleichungsplan der Schlußfälle.[auch bei Hell II, S. 54 und MMW III, S. 17 nicht enthalten] Bach. F. As. F. As. B. F. C. As. F. Vogler. – – – C. – – – Des. – In den Takten 2, 8, 14, 16, 20 hat Bach immer die letzten zwey Viertel in gleichen Akkorden anschlagen lassen, welches eine gewisse Einförmigkeit über das Ganze verbreitet; statt daß es Vogler immer mit einer Dissonanz verschönerte. Takt 19 trifft der Baß mit dem Alt b/as as/b zusammen. Höchst kräftig und fest tritt bey Vogler's Bearbeitung der Baß in den letzten 4 Takten einher, und verstärkt durch seinen analogen Gang das Gefühl des (Takt 20 fünfstimmigen) Schlusses. Choral No: IX.Ermuntre dich mein schwacher Geist.Vergleichungsplan der Schlußfälle.[auch bei Hell II, S. 54 und MMW III, S. 17 nicht enthalten] Bach. D. G. D. G. A. E. D. G. Vogler. – C. – – – – – – Sehr häufig kommt hier ein steifes Begegnen der Stimmen und durchgehenden Noten vor. Dem fließenden Gesange zu Gefallen hat Vogler im 11ten Takt sich zwey, doch ungleiche, Quinten erlaubt: d/gis e/a, die durch e statt a leicht vermieden würden. Choral X.Aus tiefer Noth schrey ich zu dir.Vergleichungsplan der Schlußfälle.[auch bei Hell II, S. 55 und MMW III, S. 17 nicht enthalten] Bach. E. E. E. E. A. G. E. Vogler. – A. H. – D. – – Die 4 Schlußfälle in E klingen einförmig. Choral No: XI.Puer natus in Bethlehem.Vergleichungsplan der Schlußfälle.[auch bei Hell II, S. 55 und MMW III, S. 18 nicht enthalten] Bach. C. C. A. A. Vogler. G.F. [ebenso bei Hell und MMW] C. – – (NB. Dieser Choral ist in der gedruckten Ausgabe Bach's No. 12, und der nächstfolgende No. 11.) Wieder bey Bach zwei aufeinander folgende Abschnitte in C, die in diesem ohnedieß kurzen Choral auffallend sind. Choral No: XII.Jesu, nun sey gepreiset.Vergleichungsplan der Schlußfälle.[auch bei Hell II, S. 56 und MMW III, S. 18 nicht enthalten] Bach. B. C. F. C. B. C. F. C. A. C. C. D. C. D. G. C. Vogler. G. – – – D. – – – C. – A. – E. G. – –G. C. F. C. D. C. F. C. C. C. A. D. E. G. G. C. [ebenso bei Hell und MMW] In der Tonart C begründet Bach gleich den ersten Schluß in Bist bei B: gleich der erste Schluß begründet in B.; außerdem sind der durchgehenden und nur übel zusammenschlagenden Noten so viele, daß Ref. nur hauptsächlich Takt 17, 19, 38, 39 herausheben und bezeichnen muß. In diesem Choral erscheint Vogler in seiner ganzen Größe. Welche Erhabenheit liegt in der Modulation! Takt 19–20, wie neu und überraschend kräftig ist sie in ihrem fünfstimmigen Gang. Wie arbeitet und drängt sich alles am Schlusse, der mit dem wahren Pomp des Kirchengesangs fünfstimmig einhertritt. Kurz, man darf nur sehen, um überzeugt zu seyn; und Ref. schließt mit der gegründeten Hoffnung, daß die Welt dies Urtheil bestätigen, und dadurch vielleicht Vogler bewegen wird, ihr mehrere dieser Choräle, und auch seine größern Werke zu schenken.