Rezension: „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber

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Korrespondenz-Nachrichten.

Stuttgart.(Beschluß.)

[…]

Im Freyschützen haben wir sie [die Sängerin Katharina Canzi] nicht selbst gehört*, wir können also blos andern guten Beobachtern nacherzählen, daß sie auch da gefallen hat. Wir selbst haben den Freyschützen nur einmal gehört, und gedenken ihn auch nicht weiter zu höhren; wir haben ihn genug gehört*. Wir sind weit entfernt, irgend Jemand in seinem Urtheile über diese Oper vorgreifen zu wollen; ja wir halten es sogar für thöricht, mit Leuten, die an dieser Oper Geschmack und Vergnügen finden, darüber zu streiten, um ihnen zu beweisen, daß ihr Geschmack nicht richtig sey. In Sachen des Geschmacks folgt billig Jeder nur seinem eigenen Geschmackssinn. Wem der Freyschütz gefällt, wen er entzückt, für den ist er ohne Widerrede eine schöne, eine reizende Oper; und es ist in dreyfacher Rücksicht abgeschmackt, mit ihm darüber zu streiten: einmal, weil er eben so gut, als der Andere, der ihn bekehren will, das Recht hat, nur seinem Geschmack zu folgen; zweytens, weil er, wenn er ein selbstständiges Urtheil über Musik fällen und Andern nicht blos nachbeten will, durchaus nichts Anderes möglicherweise thun kann, als daß er nur allein seinem eigenen Geschmackssinne folgt; und drittens, weil aller Streit darüber, wie theils die Natur der Sache aus den eben angeführten Gründen, theils die tägliche Erfahrung lehrt, immer nutzlos und vergeblich ist und seyn muß. Unser Geschmack in allen Künsten, und besonders auch in der Musik, hängt von unserer Organisation, an der wir selbst keinen, sondern die Natur allein Antheil hat; von unsern gröbern oder feinern, dichtern oder dünnern, härtern oder weichern, zähern oder geschmeidigern Fasern; von dem raschern oder trägern Laufe unsers Blutes; von unsern lebhaftern oder mattern Empfindungen; von dem richtigen Verhältnisse unserer Sinne unter einander; von den Situationen, in denen wir uns von Jugend an und im Laufe unsers Lebens befunden; von dem, was wir von Kindheit an hauptsächlich gehört haben, und von noch unendlich vielen kleinern Umständen ab, an deren Einfluß man gewöhnlich gar nicht denkt. Wie sollte es nun möglich seyn, einen so oder anders organisirten Menschen, der z. B. mit dem Komponisten des Freyschützen, Hrn. v. Weber, von Natur eine ähnliche und analoge innere Organisation hat, zu überreden, daß die Musik des Freyschützen nicht schön sey? So wenig irgend Jemand in der Welt den Hrn. v. Weber selbst davon zu überzeugen im Stande ist; eben so wenig kann dieser Versuch bey irgend einem Menschen gelingen, der mit Hrn. v. Weber, in Absicht auf seine innere Organisation, sympathisirt.

Aber eben deßwegen muß es auch andern anders organisirten Menschen, oder die in andern Lagen und Verhältnissen waren, und in den verschiedenen Epochen ihres Lebens andere Sachen oft und viel gehört haben, eben so, wie jenen, erlaubt seyn, nach ihrer Individualität zu sprechen und ihr Urtheil über den Freyschützen zu fällen. Und da möge es uns denn nun auch erlaubt seyn, offen zu sagen, daß uns diese Oper nicht nur nicht gefallen, sondern so mißfallen hat, daß wir sie beym erstenmale zugleich auch zum leztenmale gehört haben. Wir, nach unserer Individualität, lieben, verehren, bewundern bis zum Enthusiasmus die reizenden und unnachahmlich schönen Melodien eines Pergolese, Piccini, Sacchini, Guglielmi, Paisiello, Cimarosa, Sarti, Anfossi, Salieri, Zingarelli, Fioravanti und Mozart. Wir fühlen uns stets entzückt, glücklich und erhaben über alles Irdische, wenn wir die Werke dieser großen und hoch von uns verehrten Meister hören, und nichts kann dem Vergnügen gleich oder nur nahe kommen, das durch diese unsern Empfindungen zu Theil wird. Ist nun aber dieses einmal unser musikalischer Geschmack, wie wäre es möglich, daß uns der Freyschütz gefallen könnte?

Apparat

Zusammenfassung

ablehnende Kritik zum Freischütz innerhalb eines Berichtes über das Gastspiel der Katharina Canzi in Stuttgart; Rezensent kann sich mit Webers Musik nicht anfreunden, seine Vorliebe gilt vorrangig dem italienischen Belcanto

Entstehung

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Mo, Ran

Überlieferung

  • Textzeuge: Morgenblatt für gebildete Stände, Jg. 16, Nr. 259 (29. Oktober 1822), S. 1036

    Einzelstellenerläuterung

    • „… Katharina Canzi nicht selbst gehört“Während des Stuttgart-Gastspiels von K. Canzi 1822 stand der Freischütz am 18. August auf dem Spielplan.
    • „… wir haben ihn genug gehört“Die Oper war zuvor siebenmal in Stuttgart gegeben worden: am 12., 14. und 21. April, 12., 19. und 27. Mai, sowie 9. Juni 1822.

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