Dramatisch-musikalische Notizen (Dresden): „Jakob und seine Söhne in Aegypten“ (Joseph) von Méhul

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Dramatisch-musikalische Notizen.

Von Carl Maria von Weber.

Donnerstag, den 30. Januar, erscheint zum Erstenmale auf unsrer Bühne die Oper: Jacob und seine Söhne in Aegypten, nach dem Französischen des Alex. Duval. Musik von Mehul*.

Mehul behauptet ohnstreitig nächst Cherubini den ersten Rang unter denΔ Componisten, die auf ihrer künstlerischen Laufbahn in Frankreich sich vorzugsweise entwickelten und bildeten, und durch die Wahrheit ihrer Leistungen endlich ein Eigenthum aller Nationen wurden. Wenn vielleicht Cherubini noch fürΔ genialer zu halten ist, so tritt dagegen bei Mehul mehr Besonnenheit, die weiseste Berechnung und Anwendung seiner Mittel und eine gewisse gediegene Klarheit hervor, die deutlich das angelegentliche Studium der ältesten italienischen Meister und vorzugsweise der Gluckschen dramatischen Schöpfungen beurkundet.

Große dramatische Wahrheit und lebendiges Fortschreiten ohne zweckwidrige Wiederholungen, die Erreichung großer Effekte mit den oft einfachsten Mitteln, und eine Oekonomie der Instrumentation, die gerade nur das giebt, was durchaus nothwendig ist, sind ihn vorzüglich bezeichnende Eigenschaften.

Von seinen Hymnen und Liedern sind in der Revolutionszeit viele ins Volk übergegangen, und namentlich schreibt man ihm die Marseiller Hymne zu. Von einigen 20 Opern, die er geliefert, haben hauptsächlich Euphrosine (zuerst 1791 in Paris gegeben), Adrien, Ariodant, une Folie, Helene, Joseph, und, die Blinden von Toledo, seinen Ruf begründet und ihn als Meister der Kunst in den verschiedensten Musikgattungen bewährt. Enthusiasmus erregte auch besonders seine Ouverture du jeune Henri, obwohl die Oper selbst ganzΔ durchfiel, und nur die Ouverture viele Tage nach einander allein, und jedesmal da Capo gerufen, gegeben werden durfte. In Deutschland haben sich beinahe alle oben benannten Werke verbreitet; am wenigsten Adrien und Ariodant; am meisten une Folie, unter dem Titel: Je toller, je besser, oder die beiden Füchse, überall mit ausgezeichnetem Beifall aufgenommen, dann Helene, und die Blinden von Toledo, neuestens aber die Oper Joseph, oder Jakob und seine Söhne in Aegypten, die uns hier zunächst angeht.

Wer die leichtfertige Lieblichkeit, das fröhliche volkseigene Aufjauchzen und den durchaus heiterΔ gaukelnden Sinn in der Musik zu une Folie kennt und achten gelernt hat, wird mit Recht die Vielseitigkeit des Geistes und Gefühls dieses Meisters bewundern, wenn er Joseph hört.

Ein wahrhaft patriarchalisches Leben und Farbegebung erscheint hier mit ächt kindlich rein frommem Sinn gepaart. Haltung der Charaktere und erschütternde Wahrheit des leidenschaftlichen Ausdruckes ist unverkennbar mit großer Meisterschaft, Theaterkenntniß und klarer Anschauung des dem Ganzen Nothwendigen gegeben.

Aller unnöthige Klingklang und Flitterstaat ist hier vom Componisten verschmäht: die Wahrheit war sein Streben, und schöne rührende Melodieen führte ihmΔ sein Genius zu.

Die Anzeige ist der Verf.Δ noch den Zuhörern schuldig, daß der Schluß der Oper mit dem kurzen Sologesang des Josephs und darauf folgendem Chor, vom | Hrn. Musikdirector Fränzel in München, ganz dem Geiste Mehul’s sichΔ anschmiegend, dazu komponirt ist. Der Verf.Δ ist ein erklärter Widersacher aller Einschiebsel, Weglassungen und sonstigen Verstümmlungen des Originalwerkes, und wird darüber später öfter Gelegenheit haben sich auszusprechen. Wenn er es aber hier erduldsam findet, so liegt dieses in einer lokalen Kunsteigenheit aller französischen Opern, deren Schlußchöre, durchaus beinah, bedeutungslos sind, weil der rege Sinn des Franzosen, Δ nach Lösung des Knotens; gleich alles unbedeutend finden und es nicht beachtend fortstürmen heißt. Der Deutsche läßt sich gern noch in den erzeugten angenehmen Gefühlen wiegen, und folgt theilnehmend dem Darlegen derselben von denen ihm liebgewordenen Charakteren auf der Bühne. Die Rücksicht also, daß die Oper wirklich durch diesen Zusatz gewonnen habe, und die geringere, daß sie so in ganz Deutschland gegeben wird, bewogen ihn, es in dieser Gestalt zu lassen.

Mehul privatisirt jetzt seit der Auflösung des National-Instituts und Musik-Conservatoriums, wo er Mitglied und Professor war, in Paris, und arbeitet dem Vernehmen nach an einer großen Oper*.

Apparat

Zusammenfassung

Weber beginnt mit der Bedeutung von Méhul und benennt seine wichtigsten Werke; danach folgt kurze Werkcharakteristik und Rechtfertigung über eingelegte Nummer von Fränzl

Entstehung

28. Januar 1817 (laut A und TB)

Verantwortlichkeiten

Übertragung
Joachim Veit

Überlieferung in 2 Textzeugen

  • 1. Textzeuge: Abend-Zeitung, Jg. 1, Nr. 25 (29. Januar 1817), Bl. 2v

    Dazugehörige Textwiedergaben

    • HellS III, S. 81–84
    • MMW III, S. 131–133
    • Kaiser (Schriften), S. 278–281 (Nr. 108)
  • 2. Textzeuge: Entwurf: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B)
    Signatur: Mus. ms. autogr. theor. C. M. v. Weber WFN 6 (VII), Bl. 51r–51v

    Quellenbeschreibung

    • über dem Manuskript „Dramatisch musikalische Notizen. Als Versuche durch kunstgeschichtliche Nachrichten und Andeutungen“; Incipit: „Donnerstag d: 30t. Jan: 1817 erscheint zum erstenmale auf unserer Bühne die Oper Jacob und seine Söhne in Ägypten“; datiert: „geschrieben d: 28t: Jan. 1817 in Dresden.“
    • auf einzelnem Bl. 1r und v (gehörte urspr. zu DBL., vgl. 1817-WeS-02), WZ: NHEUSLER VON BASEL am Rand des Textes mit Rötel markiert; in HellS III unter 1821 eingeordnet; Überschrift ist durch Striche vom vorhergehenden Aufsatz (1817-WeS-02) und vom eigentlichen Text der Einführung zur Oper getrennt, könnte also zu 1817-WeS-03 gehören, aber auch als Überschrift für vorliegende Schrift in Frage kommen

Textkonstitution

  • „im“sic!

Einzelstellenerläuterung

  • „… Duval . Musik von Mehul“Vgl. Webers TB-Eintrag sowie die Presseberichte.
  • „… nach an einer großen Oper“Das letzte Werk des Komponisten, das zu seinen Lebzeiten uraufgeführt wurde, war La journée aux aventures (Der Tag der Abenteuer), UA am 16. November 1816 an der Opéra-Comique in Paris.

Lesarten

  • Textzeuge 1: den
    Textzeuge 2: denen
  • Textzeuge 1: für
    Textzeuge 2: Text nicht vorhanden.
  • Textzeuge 1: ganz
    Textzeuge 2: total
  • Textzeuge 1: heiter
    Textzeuge 2: fröhlich
  • Textzeuge 1: ihm
    Textzeuge 2: im
  • Textzeuge 1: der Verf.
    Textzeuge 2: Ref.
  • Textzeuge 1: ganz dem Geiste Mehul’s sich
    Textzeuge 2: ganz sich dem Geiste Mehuls
  • Textzeuge 1: Der Verf.
    Textzeuge 2: Ref.
  • Textzeuge 1: Text nicht vorhanden.
    Textzeuge 2: ihn

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