Hans von Bülow an Adolf von Henselt in St. Petersburg
Berlin, Donnerstag, 27. Oktober 1864
Höchstgeehrter Herr und Meister,
Sie werden zweifelsohne ein wenig ärgerlich sein, daß ich das mir von Ihnen gütigst geliehene Manuscript (Ihre wahrhaft bezaubernde Bearbeitung der Weber’schen Dmoll -Sonate) nicht noch während Ihres Sommeraufenthaltes in Gersdorf zurückerstattet habe. Wohl trage ich die Verantwortung, nicht aber ganz und gar die Schuld. Ich habe eine sehr traurige Zeit durchgemacht, erst seit vierzehn Tagen bin ich von meinem körperlichen Leiden so weit hergestellt worden, daß ich meine Clavierstudien wieder beginnen konnte. Der Copist hatte mich im Stich gelassen – was blieb mir übrig, als eine Abschrift Ihrer Bearbeitung meinem Gedächtnisse einzuverleiben? Denn unbenutzt konnte ich Ihre liebenswürdige Erlaubniß keinesfalls lassen, mein Concertrepertoir für nächsten Winter mit dieser Perle zu bereichern. Ich hoffe, Ihnen durch meinen Vortrag derselben keinen Anlaß zu geben, die erwiesene Gunst zu bereuen, vielleicht sogar später mich einer anderen würdig zu machen, nämlich die Mitteilung Ihrer Effectuirung der zweiten Weber’schen Sonate aus As.
Herzlich wünsche ich, daß diese Zeilen, welche nebst dem Manuscripte von der Schlesinger’schen Musikhandlung zur Beförderung freundlich übernommen werden, Sie, hochverehrter und hochverdienter Meister, in erträglicher Gesundheit und glücklicher Geistesstimmung treffen mögen.
[…]
Während der zweiten Hälfte des Winters gedenke ich meine Conertcyclen in Berlin, Dresden, Hamburg u. s. w. wieder aufzunehmen und überall mit Dmoll-Sonate von Weber zu eröffnen. Ihrem Wunsche gemäß werde ich den Namen des Bearbeiters unerwähnt lassen. Dagegen legen Sie es mir hoffentlich nicht als Indiscretion aus, daß ich dem sehr musikverständigen persönlich gentlemanliken Nachfolger des Herrn H. Schlesinger, Herrn Robert Lienau davon sehr gesprochen, der darauf brennt, mit Ihnen wegen dieser Bearbeitungen in Unterhandlung zu treten*.
[…]
Apparat
Incipit
„Sie werden zweifelsohne ein wenig ärgerlich sein,“
Generalvermerk
Auslassungspunkte in der Abschrift (Quelle 2) zeigen an, dass die Kopie nicht vollständig ist (das bestätigt auch der Vergleich mit den Drucken). Sie fußt wohl auf dem Original, das sich laut Notiz von [Rosalie?] Mila zu diesem Zeitpunkt „im Besitz des Frl. Heinrichsen in Petersburg“ befand. Der Abdruck in der Ausgabe von 1914 (Quelle 3) ist unabhängig vom Erstdruck (Quelle 1) wie auch von der Kopie (Quelle 2), worauf zahlreiche Übertragungsfehler hindeuten (vgl. die Lesung von „Gedächtnisse“ im Erstdruck als: „Gedicht-Museum“ und die Wiedergabe des Verlegernamens als „Herrn Robert“ [ohne Lienau]). Die hier wiedergegebenen Passagen folgen daher dem Erstdruck (Quelle 1), der seinerseits auf das „Autograph im Besitze von Frau Räthin Rosalie Mila in Berlin“ verweist, ohne die Lesarten der anderen Quellen zu verzeichnen.
Verantwortlichkeiten
- Übertragung
- Frank Ziegler
Überlieferung in 3 Textzeugen
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1. Textzeuge: Hans von Bülow, Briefe. III. Band. 1855–1864 (= Hans von Bülow. Briefe und Schriften, Bd. IV), Leipzig 1898, S. 609–611
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2. Textzeuge: Berlin (D), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (D-B)
Signatur: Signatur: 55 Ep 50 (1)Quellenbeschreibung
- 1 DBl. (2 b. S.)
- darauf Abschrift von zwei Briefen (Bülow als 1. Brief auf S. 1f., mit Auslassungen)
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3. Textzeuge: Olga von Haeckel, Meine Erinnerungen an Adolf Henselt, in: Neue Musik-Zeitung, Jg. 35, Nr. 16 (2. Quartal 1914), S. 312
Einzelstellenerläuterung
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„… Bearbeitungen in Unterhandlung zu treten“A. Henselts Serie „C. M. v. WEBER’S ausgewählte Werke für das Pianoforte mit Varianten, erläuternden Vortragszeichen und Fingersatz bearbeitet“ erschien in acht Einzelausgaben 1872/73 bei Schlesinger/Lienau, darunter auch die Klaviersonaten Nr. 1–3.