Correspondenz-Nachrichten aus Prag vom 12. Oktober 1817

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Prag, den 12ten October 1817.

Seit ich Ihnen das letztemal schrieb, haben wir in unsrer dramatischen Welt zwei sehr erfreuliche Erscheinungen gehabt. Dem. Demmer aus Wien, welche als Victorin von Lüceval in dem Drama, die Waise und der Mörder, debütirte*, und Hr. Geyer aus Ihrem freundlichen Dresden, welcher uns mit fünf Gastrollen beschenkte*. Er betrat die Bühne zum erstenmale als Rudolph in Körners Hedwig, und zeichnete diesen schwierigen Charakter, welchen der Dichter großentheils nur skizzirt und dem darstellenden Künstler zu vollenden überlassen hat, mit großer Zartheit und Mäßigung als ein mit der Welt zerfallenes Wesen, das an der Hand der Liebe zum edlen Daseyn zurückkehren will, und auch hier seine Hoffnungen vernichtet sehend, unwiderbringlich sich der Sünde dahin gibt. Die wahren Kunstkenner erkannten die Ansicht und Absicht des Herrn Geyer schon in der Anlage, aber das große Publikum, das in der Regel das starke Colorit liebt und sich gern heftig angreifen läßt, schien Anfangs seine Darstellung zu mißverstehen und wurde erst im Laufe des Stückes mit ihm einig, man kann es daher Hrn. Geyer als einen großen Sieg anrechnen, daß er am Ende einstimmig vorgerufen wurde. An demselben Abend gab er den armen Poeten, und sowohl die Verschiedenheit der beiden Charaktere als die große Wahrheit, Innigkeit und Milde, womit er den zweiten mahlte, gewann ihm den rauschendsten Beifall und ein abermaliges Hervorrufen. Drei Tage später gab er den Geizigen und wurde schon mit Beifallklatschen empfangen, sowohl diesen Charakter als jenen des Schneider Fips in der unruhigen Nachbarschaft, führte er mit vieler Einsicht und Wahrheit durch, gab sodann zur vierten Gastdarstellung den Franz Moor in Schillers Räubern, und erschien überall als ein denkender Künstler, der seine Rolle nicht nur lernt, sondern innig in sich aufnimmt, verarbeitet und als ein vollendetes und abgerundetes Ganze wieder zu geben versteht; hierzu kommt noch eine Kunst, die leider bei unsrer Bühne etwas vernachlässigt wird, nämlich im Aeußern jedesmal durch eine ausdrucksvolle Maske zu überraschen und neu zu seyn, welche Herr Geyer in einem hohen Grade besitzt. Wie sehr er das Publikum gewonnen hat, beweist der Umstand, daß er selbst in seiner letzten Rolle, Koke in Partheienwuth, in welcher Herr Wilhelmi bisher für unerreichbar gehalten wurde, und welche diesen ¦ zum Liebling des Publikums machte, gefiel und hervorgerufen wurde. Wir sehen diesen würdigen Musenpriester, der sich mit gleichem Eifer Thalien und Melpomenen gewidmet, mit Achtung und Theilnahme von uns ziehen, und seine Anwesenheit wird uns stets eine angenehme Erinnerung gewähren.

Demoiselle Demmer, welcher ein großer Ruf von Wien vorangegangen, hatte eine große Aufgabe zu lösen, jenem zu entsprechen, und eine furchtbare Vorgängerin in der Person der sehr schätzbaren Künstlerin, Dem. Brand, die beim Prager Publikum – das, wie bekannt, am liebsten durch Vergleiche urtheilt – so sehr und mit so großem Recht beliebt ist. Die erste hat sie glücklich gelöst, indem sie der Vergleichung durch eine ganz verschiedene Ansicht und Auffassung des Charakters entging; Dem. Brand stellte den Victorin mit der größten Wahrheit dar, wodurch so mancher Mangel des dramatischen Gedichtes fühlbar ward, da hingegen Dem. Demmer denselben aus einem idealern Gesichtspunkte aufgefaßt zu haben schien, wozu sie der musikalische Nimbus, von dem Victorin umgeben erscheint, allerdings wohl berechtigt; dadurch erhielt der stumme Jüngling noch eine höhere Bedeutsamkeit, die wohlthätig auf das Ganze zurück strahlte und dem Stücke ein verdoppeltes Interesse verlieh. Der Debutante wurde der einstimmigste und ehrendste Beifall zu Theil, der ihr nicht nur durch Vorrufen, sondern auch durch die gespannteste Theilnahme während der ganzen Vorstellung bewiesen wurde.

Ein junger Mann, der sich erst der Bühne widmete, Herr Machek, betrat als Don Juan zum erstenmale die Bühne*, und berechtigt durch eine schöne Figur und recht artigen Bariton, über den er jedoch noch mehr Herr werden muß, um zur rechten Zeit durch zu greifen, zu schönen Hoffnungen; wir werden bei seinen folgenden Leistungen auf ihn zurück kommen.

Herr Feistmandel, der schon vor einiger Zeit hier Gastrollen gab und großen Beifall fand, ist als engagirtes Mitglied zurück gekommen und erfreut sich fortwährender Theilnahme des Publikums.

Dem. Pfeifer die jüngere ist engagirt. Mad. Sonntag wird sich in Kurzem nach Wien begeben, um dort Gastrollen zu geben. Von neuen Stücken sahen wir nur die Schlacht von Pultawa von K. Meisl*; da man aber die Sünden seines Nächsten mit dem Mantel der christlichen Liebe bedecken soll, so werde unserer über dies theatralische Ungeheuer ausgebreitet. Nächstens mehr.

Editorial

Summary

Aufführungsbericht Prag: Ende Sept./Anfang Okt. u. a. “Die Waise und der Mörder” und Gastrollen Dem. Demmer, Hr. Geyer u.a.

Creation

vor 4. November 1817

Tradition

  • Text Source: Abend-Zeitung, Jg. 1, Nr. 264 (4. November 1817), f 2v

    Commentary

    • “… und der Mörder , debütirte”Laut Tagebuch der deutschen Bühnen (1817, S. 347) am 23. September 1817.
    • “… uns mit fünf Gastrollen beschenkte”Laut Tagebuch der deutschen Bühnen (1817, S. 347) trat Geyer am 30. September (in Hedwig), 2. Oktober (im Geizigen), 7. Oktober (in Die gefährliche Nachbarschaft), 9. Oktober (in den Räubern) und 10. Oktober 1817 in Prag auf.
    • “… Juan zum erstenmale die Bühne”Laut Tagebuch der deutschen Bühnen (1817, S. 347) am 6. Oktober 1817.
    • “… von Pultawa von K. Meisl”Laut Tagebuch der deutschen Bühnen (1817, S. 347) am 28. September 1817.

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