Aufführungsbesprechung Pest: “Der Freischütz” von Carl Maria von Weber, Mai bis Juni 1822

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Correspondenz-Nachrichten.

Pesth Anfangs August 1822.

Seit drey schönen Monden habe ich die Fortsetzung unsrer Correspondenz von einer Woche zur andern verschoben, nicht als wenn ich des Stoffs dazu ermangelt hätte, sondern weil mir solcher desto geringhaltiger vorkam, je interessantere Begebnisse aus der Residenz verlauteten. Es ging mir, wie einem schüchternen Gentleman aus der Provinz, welcher – in einen geistreichen Zirkel der Capitale versetzt – mit Recht ansteht, seine schlichten Notizen auszupacken, während neuere und wichtigere Gegenstände von den Sprechern der Gesellschaft verhandelt werden, und eine geruhige Pause oder liebreiche Fragen abwartet, um sein Scherflein zur Unterhaltung zu geben. Während des letzten Vierteljahrs war auf unserer Bühne die interessanteste Erscheinung – offenbar der Freyschütz*, und wenn uns auch nicht das Glück geworden, das Werk durch den Meister selbst und unter allseitiger Meisterhilfe regiert zu sehen, so müssen wir doch unsern, auf der mittlern Stufe stehenden Künstlern zum Ruhme nachsagen, daß sie alle ihre Kräfte aufgeboten, dieses angenehme Geschenk der verschwisterten Dresdner Musen uns würdig zu überliefern. Auch Orchester und Decorationen (überhaupt die besten Theile unsres scenischen Ensembles) ließen wenig zu wünschen übrig, und die Geräumigkeit unserer Bühne verschaffte den imponirenden Stücken des in voller Integrität dargestellten Ganzen auch vollen Effect. Alles dieß aber konnte die Bemerkung nicht unterdrücken, daß ein solcher, obwohl meisterlich in die Harmonie eingezwängter Teufelsspuk, dem norddeutschen Publicum mehr als dem süd- und ostdeutschen zusagen müsse, weil er bey jenem mehr in die gangbaren Volksmärchen eingreift, und weil bey letzteren ein besserer musikalischer Geschmack vorwaltet; ein Geschmack, welcher weder solche | grelle Contraste und schier gräßliche Spectakel, noch die frömmelnden Spielereyen billigt, womit der Dichter ganz unnöthiger Weise den Componisten behelligt hat. Darum fällt jedoch dem wackern Maria Weber so wenig ein Blättchen aus seinem Lorberkranze, als dem schon früher überreich gekrönten Poeten durch dieses Weidmannsstückchen eines zugewachsen ist, und wir unseres Orts müssen bezeugen, daß der Feyschütz, so oft er über unsere Breter gegangen, nie sein Ziel verfehlt, sondern dem Meisterschusse, so weit es bey uns möglich, immer näher, ja mit seinen Liedern und Melodien unter unsere jungen Lebeleute gekommen. Bald nach dem wilden Jäger fand sich Hr. Lewin mit seinen mimischen Künsten bey uns ein*. Er machte anfangs viel Glück und die wiederholte Fülle des Hauses schien die von der Direction gebrachten pecuniären Opfer reichlich zu vergüten, aber bey der Einförmigkeit der Leistungen, in welchen überdem der Künstler die kluge Steigerung unterließ, konnte es nicht fehlen, daß das Publicum das Interesse nach und nach verlor und zur Ehre seines Geschmacks die Meinung mancher ruhiger Beobachter rechtfertigte, welche zwar Hrn. Lewins und seiner Genossen Behendigkeit, Fertigkeit und Muskelkräfte belobten, jedoch das Ganze nicht für eine Kunstleistung, sondern mehr für eine Künsteley, wenn nicht gar für eine Harlekinade gelten lassen wollte, welcher man auf einem anständigen Theater nie so vollen Raum geben dürfe. Was als Intermezzo dann und wann ganz an seinem Orte ist, darf nie als wiederholtes Hauptstück in die Reihe der Kunstgenüsse gestellt werden, und wenn vollends Charlatanerien mit unterlaufen, so besinnt sich ein kunstsinniges Publicum sehr bald und schämt sich hinterher, so viel gelacht zu haben. Mit Recht versprachen wir uns einen solideren Genuß von den Leistungen Ihres anmuthigen Meistersängers, des Hrn. Forti, welcher – von der Direction auf zwölf Vorstellungen engagirt – am 23. Juny hier ankam und uns – wenn gleich in anderer Weise – eine Wiederholung des im vorigen Fasching von Hrn. Siebert gewährten Kunstvergnügens hoffen ließ. Hr. Forti trat am 25. Juny als Don Juan und am 3. Juny als Othello in Pesth auf und wiederholte am 4. July den Don Juan in Ofen. Wer ihn hörte und sah erkannte die Meisterschaft des Gesangs und der Action, fand aber leider! Grund zu bemerken, sowohl, daß die Mitleistung unsrer sonst guten Künstler durch das eminente Talent des Gastes nicht empor gezogen wurde, als auch, daß sich in der Besetzung der Nebenrollen von Seite der Regie nichts weniger als das Bestreben aussprach, den fremden Meister durch Zugesellung der besten Gehülfen zu ehren und zu befördern. Es mag auf seinem Unwerth beruhen, ob Nachlässigkeit oder überwollender Neid hieran Schuld gewesen, aber auch das Publicum beyder Städte verzieh sich auffallende Vernachlässigung des braven Künstlers. In Ofen nähmlich, wo er, wie oben gesagt, am 4. July als Don Juan auftrat, fand er das Haus so leer, als wenn man einen notorischen Stümper erwartet hätte; und wenn auch deßfalls als Entschuldigungsgrund angeführt werden möchte, daß die übrigen Parthien der so herrlichen Oper mit den geringsten Subjecten der Gesellschaft besetzt gewesen und sonach die Regie und Direction hierdurch offenbar eine Vernachlässigung des Ofner Publicums sich zu Schulden kommen lassen, so hätte doch wohl Kunstsinn und feine Sitte – die sonst so bewährten Tugenden – es nicht zugeben sollen, daß die Sünden der Regie und Direction dem schuldlosen ehrenwerthen Gast eine solche Kränkung bereiten konnten. Wohl mochten auch zufällige Umstände – namentlich die Abwesenheit vieler angesehener und kunstliebender Familien – eingewirkt haben, aber in Pesth fielen Verstösse anderer Art vor. Nämlich bey der Vorstellung des Othello am 3. July, wo unsere besseren Künstler in der Mitleistung das Ihrige thaten, begingen einige Schreyer die Unart, den dem fremden Künstler wahrlich in vollem und ungetheiltem Maße gebührenden Dank dadurch zu schmälern, daß sie die hiesigen – doch nun und nimmermehr über das Mittelmäßige sich erhebendenn – Sänger mit dem Gaste herausriefen. Freylich hätten letztere diese ganz zur unrechten Zeit angebrachte Ehre nicht annehmen und in bescheidner Selbsterkenntniß den indiscreten Civismus ihrer Freunde ablehnen sollen; allein – war es Eitelkeit oder Freude über die gelungene Cabale – die Gerufenen erschienen und versäumten auch bey ihrer Danksagung, die Unart der leider vorgeltenden Schreyer wieder gut zu machen. Darum befremdete es die Unterrichteten nicht, | daß, obschon es bestimmt war, daß Hr. Forti am 6. July im Barbier von Sevilla uns erfreuen solle, auf einmal die Nachricht sich verbreitete, er habe wegen Unpäßlichkeit fernere Leistungen verbeten und sey abgereist; eine Nachricht, welche die Verehrer seines Talents betrübte und zugleich große Sorge erregte, daß alle diese Hergänge über Kunstsinn und Lebensart des hiesigen Theaterpublicums in der Kaiserstadt nicht den besten Leumund zur Folge haben möchten.

So gewiß ich hoffe, daß Sie mit allen Billigdenkenden, wie auch Hr. Forti selbst, die Fehler und Unarten der Einzelnen, nicht der Gesammtheit zur Last legen werden, so gewiß sehe ich auf Ihren Lippen die Frage schweben: Wie kann die Direction solche Umtriebe und Übelstände zulassen? Wie mag sie nicht alles aufbieten, solche Unbilden auszugleichen, bevor sie zum öffentlichen Ärgerniß gedeihen? – Ich zucke die Achseln und antworte folgendes:

Vor allem scheint mir in der Individualität der jetzigen Direction der Grund zu liegen, weßhalb Unwesen nicht verhindert worden ist. Ich bezweifle keineswegs den guten Willen der durch die an Ostern d. J. vorgewesenen Restauration neueingetretenen sieben Directoren, allein um so ein wunderliches Völkchen, wie Schauspieler mehr oder weniger sind, in ihren Schranken zu halten, dazu gehört nächst allseitiger und gründlicher wissenschaftlicher und ästetischer Bildung, auch Erfahrenheit im Verkehre mit den Priestern der Thalia und Gabe und Lust, den Intriguanten zu imponiren. Nun ist aber keiner der HH. Directoren, deren anderweite Verhältnisse ich gern in allen Ehren lasse, in den Künsten der Musen tactfest genug, um ein kluges, klares und entscheidendes Wort in die Angelegenheiten der Regie zu reden – und Erfahrenheit in Haltung der Disciplin unter einer Schauspielergesellschaft geht allen ab.

(Der Schluß folgt)

Editorial

Creation

Responsibilities

Übertragung
Ran Mo

Tradition

  • Text Source: Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, Jg. 7, Nr. 103 (27. August 1822), pp. 828–830

    Commentary

    • “… Erscheinung – offenbar der Freyschütz”Pester Erstaufführung der Oper am 13. Mai 1822.
    • “… mimischen Künsten bey uns ein”Joseph L. Lewin gastierte am Theater Pest vom 18. Mai bis 7. Juni 1822 mit sieben Aufführungen seiner Pantomime Der goldene Schlüssel oder Der bombardirte Arlequin und drei Aufführungen der Pantomime Arlequin im Zaubergarten.

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