Sendschreiben an den Verfasser des Aufsatzes über den jetzigen Kunstzustand von Mannheim

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Sendschreiben an den Verfasser des Aufsatzes über den jetzigen Kunstzustand von Mannheim, welcher in den No. 42. 45. 46. 47. des Morgenblatts* erschienen ist.

– – – Ihrem Urtheile zufolge sollte man glauben, Mannheim sey der Auswurf und die Rüstkammer der Kunst geworden, und sey der langweiligste unerträglichste Ort von der Welt; Ihrem Urtheile nach, hat das hiesige Publikum keinen Sinn mehr für das Schöne und Treffliche, und das ist Ihnen „unbegreiflich.“* – Unbegreiflich ist es mir, wie Sie sich mit einer solchen Dreistigkeit als Richter über den Sinn einer ganzen Stadt aufwerfen können, und Ihr auffallendes Urtheil nicht einmal mit irgend etwas zu unterstützen wissen; denn das häufige Herausrufen und Beklatschen im Schauspielhause, worauf Sie so viel Gewicht legen*, herrscht überall auf allen Bühnen gleich stark, und wohl noch stärker als hier, und ist schon längst allenthalben von dem bessern Theile des Publikums an die Bewohner des obersten Stockwerks als Beifallsäußerung abgetreten worden, welche die Gewalt haben und den Lärm. Nur ein allgemein von allen Seiten des vollen Hauses zusammenrauschendes Applaudiren kann man als Urtheil und Stimme des Publikums ansehen, und dies ist gewiß selten genug hier der Fall. Der Kenner, der fühlende Zuschauer schweigt meistens bei Lob und Tadel, und ist wohl auch noch, wenn er Etwas äußert, mehr zum Lobe geneigt, indem er auf die Umstände Rücksicht nimmt und das Geleistete nur nach der vorhandnen Kraft beurtheilt, ohne deswegen das Beßre nicht zu kennen; und glauben Sie denn, mein Herr, daß Niemand hier das Schauspielhaus besucht, dem es auch gegeben ist, Gutes und Schlechtes zu unterscheiden, und mußten Sie erst aus der Fremde, wenn gleich nicht weit her, kommen, um zu sagen was an Mannheimern sey? Sollte Ihnen nicht eingefallen seyn, daß eine Stadt doch wohl nicht ganz ohne Kunstsinn seyn müsse, welche nach einer frühe verlornen Residenz, nach so vielfältig erlittnen Kriegsschlägen und Beraubungen, ohne Handel, ohne wiederaufhelfende Gewerbe dennoch eine Bühne aufzuweisen hat, die, wenn gleich sehr gesunken von ihrem ehemaligen Gipfel, mit den meisten Theatern Deutschlands noch mit Erfolg rivalisiren könnte, da sie in jeder andern Stadt längst zu Grunde gegangen seyn würde; daß ein Baum noch nicht völlig abgedorret seyn könne, welcher noch täglich neue Blüthen treibt, und dessen Früchte man noch immer mit Begierde in ganz Deutschland aufnimmt. Ich rede von der neuesten Zeit, nicht von jener, wo überhaupt noch die meisten Bühnen und Orchester in Deutschland, ja sogar manche Orchester in Frankreich und England mit einzelnen Trümmern von dem kolossalen Kunst-Ensemble Mannheims prangten; wollen Sie Beispiele, so nenne ich Ihnen Luise Beck, Tochter des ehemaligen berühmten Schauspielers Beck; die Journale erschöpfen sich in Lobeserhebungen über sie, und ganz Berlin ist entzückt, ich verweise Sie auf Madame Guhr, Tochter des noch nicht lange verstorbnen hiesigen Tenoristen Epp, erste Sängerin in Nürnberg mit einem bedeutenden Rufe, auf die beiden Fränzel, die beiden Pixis, auf den Conzertmeister Tollmann in Basel, den jungen Nikola, der jetzt in Rußland ist, auf Madame Schönberger, auf Madame Gervais*, dermalen beim Carlsruher Hoftheater, welche mit vorzüglichem Gesange ein treffliches Spiel verbindet, und weil ich denn doch einmal im Hernennen bin, so verweise ich sie endlich, was den Zustand des jetzigen Theaters in Mannheim betrifft, auf Mdselle Luise Frank*, Mitglied unsrer Bühne, welche auf ihrer letzten Kunstreise durch Deutschland überall den rauschendsten Beifall erhielt, und die in Berlin bei jeder Vorstellung herausgerufen wurde, ohne die Menge kleiner auf sie verfertigter Gedichte* zu erwähnen; ich führe endlich Hrn. Kaibel an, der früher auf der Breslauer Bühne war, jetzt aber Mitglied des hiesigen Theaters ist, und mit vielem Beifall im Auslande aufgenommen wurde, wie auch Hrn. Hoffmann, der auf seinen Kunstreisen viel Glück machte, welches alles die Journale zur Genüge dargethan haben; unsrer Madame Nikola* gar nicht zu erwähnen, welcher Sie selbst nicht den Rang einer der ersten Künstlerinnen im komischen Fache streitig machen konnten*. – Rechnen sie noch dazu Hrn. Eßlair und Hrn. Meyer, deren Rollen wohl im Durchschnitte selten irgendwo besser besetzt gefunden werden, und Sie werden daraus schon sehen, mein Herr, daß es denn doch nicht ganz so schlecht mit unserm Kunstsinne und mit unsrer Bühne im Vergleiche mit andern steht, da unsre Künstler gewöhnlich im Auslande einen Beifall ernten und mit nach Hause bringen, den ihnen das hiesige Publikum vielleicht nicht einmal so unbedingt zugestehen möchte. – Von Ungerechtigkeiten, welche Sie im Einzelnen in ihrer Kritik begehen, wäre viel zu sagen, dahin gehört z. B. ihr Urtheil über Mad. Ritter*, welche, wenn gleich jetzt ohne Kraft, doch ehemals selbst in der glänzendsten Periode unsrer Bühne unter die guten Schauspielerinnen gezählt wurde, und welche ich noch vor einigen Jahren als Jungfrau von Orleans, der Mad. Gelhar* weit vorzuziehen kein Bedenken würde getragen haben. Dahin gehört ihr absprechendes Urtheil über Hrn. Singer*, welcher, einige wenigen der berühmtesten Bassisten abgerechnet, gewiß unter die besten gehört, und an Reinheit der Intonation und Festigkeit in der Musik Keinem nachsteht, den uns aber leider jetzt, gerade dieser Vorzüge wegen, das Darmstädter Theater entführt ec. – Was überhaupt die Musik anbetrift, so ist darüber Ihr Urtheil noch viel oberflächlicher und man sollte beinahe ihre Kenntnisse davon etwas in Zweifel ziehen; wenn Sie sich ja einmal einlassen zu bestimmen, was Madame Schönberger ihrer Stimme gemäß vorzugsweise singen sollte, so kommt heraus, daß sie sich auf Musik beschränken solle, welche für einen Bassisten oder Bariton gesetzt ist; eine zum Theil falsch extrahirte Stelle einer hier über ihren Gesang als Titus erschienenen Recension*. Wenn Sie dem hiesigen Museum eine unglückliche Auswahl seiner Musikstücke vorwerfen*, so geben Sie nicht an, was es denn ungefähr hätte wählen sollen; etwa ihrem Geschmacke nach leichte Guitarre-Musik und dergleichen?! Doch genug, denn hierüber will ich mich gar nicht mit Ihnen einlassen.

Alexander von Dusch.

Apparat

Generalvermerk

namentlich gezeichnet.

Kommentar: Dusch nimmt hier Bezug auf einen Aufsatz im Morgenblatt für gebildete Stände, Jg. 5, Nr. 142 (14. Juni 1811), S. 567–568, Nr. 145 (18. Juni 1811), S. 580, Nr. 146 (19. Juni 1811), S. 584 und Nr. 147 (20. Juni 1811), S. 588, dessen Verfasser nach dem Eintrag im Redaktionsexemplar im DLA Marbach (v. Wächter) Karl Friedrich August Christoph von Wächter sein dürfte. Dusch hatte sein Sendschreiben zuvor im Badischen Magazin angekündigt (1811-V-38). Weitere Antikritiken dazu verfaßten Karl Jakob Wagner in: Morgenblatt für gebildete Stände, Jg. 5, Nr. 240 (7. Oktober 1811), S. 959–960, und G. Weber (1811-V-34). Dusch bezieht sich auf den Aufsatz im Morgenblatt und seine Antikritik erneut in 1812-V-01.

Entstehung

Überlieferung

  • Textzeuge: Zeitung für die elegante Welt, Jg. 11, Nr. 209 (19. Oktober 1811), Sp. 1671–1672

    Einzelstellenerläuterung

    • „Aufsatzes über den … 47. des Morgenblatts“Korrespondenz-Nachrichten. Mannheim, im Mai, in: Morgenblatt für gebildete Stände, Jg. 5, Nr. 142 (14. Juni 1811), S. 567–568; Nr. 145 (18. Juni 1811), S. 580; Nr. 146 (19. Juni 1811), S. 584, und Nr. 147 (20. Juni 1811), S. 588.
    • „ist Ihnen unbegreiflich.“Vgl. a. a. O., S. 580: Wäre das Publikum jedes bessern Maßstabes beraubt, um die Kunst zu würdigen, so würde man sich noch eher ein solches Herabsinken erklären können, aber, da es noch wahre Künstler besitzt, dennoch so rückwärts schreiten, bildet es eine besonders auffallende Erscheinung.
    • „Herausrufen und Beklatschen … viel Gewicht legen“Vgl. a. a. O.: Wenn man einige Zeit Gelegenheit hatte, zu bemerken, was auf der hiesigen Bühne beklatscht und gepriesen wird, so hält man mit Mühe die Ueberzeugung fest, daß es dieselbe Bühne ist, welche zwanzig Jahre früher unter den vorzüglichsten Deutschlands eine der ersten Stellen behauptete. Wo einst Iffland, Beil, Böck mit Meisterhand zeichneten, erringen jetzt unsinnige Gebärden, Geschrey und Toben nur zu oft den ersten Preis, und wer eine erste Rolle mit kräftigem Körper und starker Brust herabzudonnern vermag, hat unbestrittene Ansprüche auf das Herausrufen.
    • „Madame Gervais“Katharina Gervais wechselte 1811 nach Karlsruhe; vgl. 1810-V-19 (Teil 3) und 1811-V-13.
    • „Mdselle Luise Frank“Zu ihrer Gastspielreise nach Berlin und Breslau vgl. Kom. 1811-V-26.
    • „auf sie verfertigter Gedichte“Vgl. 1811-V-26.
    • „Madame Nikola“Christiane Henriette Nicola; zu ihren Leistungen im komischen Fach vgl. 1811-V-64.
    • „Sie selbst nicht … streitig machen konnten“Vgl. Morgenblatt, a. a. O., S. 584: In jener Gattung ist sie oft unübertrefflich, und nie sinkt sie zur Gemeinheit herab.
    • „ihr Urtheil über Mad. Ritter“Zu Katharina Ritter vgl. a. a. O., S. 580: […] ob ihre Deklamation eintöniger oder ihre Bewegungen einförmiger seyen, ist schwer zu bestimmen; aber ich mache mich verbindlich, diese von jeder Marionettenpuppe eben so steif, und eckig, und abwechselnd machen zu lassen.
    • „Mad. Gelhar“Ludovika Gelhaar vom Stuttgarter Hoftheater (dem Wächter als Intendant vorstand) gastierte am 7. Mai 1811 als Jungfrau von Orleans in Schillers gleichnamigem Trauerspiel in Mannheim; vgl. 1811-V-22. Im Morgenblatt, a. a. O., S. 588, wird betont, die Rolle war durchstudiert, und man konnte nicht mißkennen, daß keine armselige Nachäffung Mad. Gelhaar leitete, daß sie ihren eigenen Weg ohne entlehnte Stützen ging.
    • „ihr absprechendes Urtheil über Hrn. Singer“Zu Karl Singer vgl. a. a. O., S. 584: Hr. Singer hat einige schöne Töne, aber wenig Umfang, und überhaupt keine von den freyen Bruststimmen, ohne welche ein Baßsinger nie recht wirken kann. Singer wechselte nicht nach Darmstadt; zu entsprechenden Gerüchten vgl. auch 1811-V-62 und Kom. 1811-V-91.
    • „über ihren Gesang … Titus erschienenen Recension“G. Webers Kritik über Marianne Schönbergers Gastspiel in Mozarts Titus (La clemenza di Tito) am 21. März 1811 im Badischen Magazin; vgl. 1811-V-10.
    • „unglückliche Auswahl seiner Musikstücke vorwerfen“Vgl. Morgenblatt, a. a. O., S. 568: Aber man war in der Wahl der Musik nicht immer glücklich, und große Symphonien und Kirchengesang, welche auf ein ganz anderes Lokal berechnet waren, konnten in dem beschränkten Saale nicht wirken, auch die größere Zahl der Zuhörer nicht ansprechen.

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